Wieso nur wieder solch eine lange Strecke? Weil ich es kann? Dass ich es kann, habe ich in den letzten fünf Jahren auf Langstrecken wiederholt bewiesen. Es ist dieses lebendige Gefühl, der andere Betriebsmodus, der antreibt und sich erst nach einer gewissen Kilometerzahl einstellt. Auf der Bundesstraße nach Wallgau treffen wir eine Rennradtruppe. Einen der Mitfahrer frage ich, wohin es gehen soll. „In die Eng“, antwortet er. „Da würde ich jetzt auch gern hinfahren“, sage ich, worauf er fragt: „Wohin soll es denn gehen?“ – „Nach Turin“, höre ich mich ungläubig sagen, da ich in dem Moment von der Wucht der Distanz so beeindruckt bin, dass ich mir nicht vorstellen kann, bis dahin durchzufahren.
Noch sind die Temperaturen moderat, da wir vor 5.30 Uhr am Samstagmorgen am 29. Juni 2019 gestartet sind. Ich hätte schon zwei Stunden früher aufstehen können, um noch zeitiger auf dem Rad zu sitzen. Gerade heute, wenn die Hitze am Tag wieder zur Höchstform aufläuft, sind davor gemachte Kilometer goldwert. Doch glaubte ich, etwas Schlaf sei noch drin. Leider weit gefehlt. Das nährt ein paar Zweifel und Furcht vor Müdigkeit, da Schlafen bis zur Ankunft in Turin nicht auf der Agenda steht. Erster Bäckerstopp ist in Bad Tölz. Weiter verläuft die Route über die Jachenau zum Walchensee. Dort läuft zwar der Ausflugsbetrieb bereits an, aber wir sind noch zeitig genug, um zügig voranzukommen.
In Mittenwald ist wie immer viel Verkehr. Auf der Leutasch-Ebene zum Buchner Sattel ist es dagegen noch ruhig. Auf unserem Vierländer-Giro sind wir jetzt im zweiten Land in Österreich unterwegs. Unten in Telfs legen wir einen Stopp beim Bäcker Ruetz ein.
Bis zum nächsten Ruetz in Imst sind es gute 30 Kilometer. Außerdem muss eine neue Radflasche her, da der Deckel sich von einer mitgeführten Flasche verabschiedet hat. Die Hitze hat Fahrt aufgenommen und begleitet uns das Inntal hinauf. Über Landeck geht es nach Prutz, wo wir dieses Mal nicht zum Kaunertaler Gletscher hinauffahren, sondern die Richtung in die Schweiz ins Engadin nehmen.
In Pfunds steuern wir den letzten Supermarkt vor der Grenze an. Längst sehen wir, dass alles länger als geplant dauert. Von der Straße aus blicke ich immer wieder auf den Inn hinab. Als ich das Schild vom Camping Platz Sur En passiere, erinnere ich mich an unsere Zeit zum Kajakfahren hier. Die Innstrecken sind fordernd. Auf der Straße ist es moderat. Auch die Temperaturen werden zusehend angenehmer. In Zernez essen wir eine Pizza, um zur kommenden Nachtfahrt gerüstet zu sein. Obgleich es noch hell ist, kommt nun die Beleuchtung ans Rad, um nicht dafür extra anhalten zu müssen. Mindestes 300 Höhenmeter und über 53 Kilometer bis zum Malojapass liegen jetzt an. In St. Moritz erreichen wir die 1800 Meter Seehöhe. Es ist längst dunkel geworden.
Die lange Passabfahrt nach Chiavenna runter beherrscht immer mehr meine Gedanken, da ich noch nie einen Alpenpass bei Nacht runtergefahren bin. Doch davor liegt Silvaplana und der Malojapass mit ein paar Wellen. Schon vor St. Moritz hat sich Gegenwind eingestellt. Der bleibt uns bis zur Passabfahrt erhalten. Dann endlich sehe ich ein Schild, auf dem 31 Kilometer bis nach Chiavenna verzeichnet sind. Oben die Kehren sind schon speziell zu fahren, bis der Lichtkegel die so ausleuchtet. Das Gute ist, wir haben die Abfahrt nahezu für uns allein. Nicht einmal 5 Autos kommen uns bis Chiavenna entgegen. Dazu nehmen die Temperaturen zu. Oben am Pass ist es in der Nacht frisch. So ist die Wärme jetzt wohlig angenehm. Selbst ein Espresso ist 7 Kilometer vor Chiavenna drin.
In Chiavenna auf einer Bank machen wir eine Esspause, bevor wir uns zum Comer See aufmachen. Von Chiavenna aus sind es etwa 250 Kilometer bis Turin. Am Comer See gehen letzte Feierlichkeiten zu Ende. Auf einer Bank blicke ich in den Sternenhimmel über dem See und weiß, im normalen Alltagsleben ergeben sich solche Situationen eher nicht. Das kann ich nur hier so erleben. Im Morgengrauen erreichen wird das Ende des Sees und essen ein frisches Marmeladen-Brioche einige Kilometer hinter Como. Nun kommt die Po-Ebene. Mein Gedanke ist, jetzt zügig Kilometer zu machen. Denn mittags wird es brennend heiß. In der Po-Ebene habe ich schon so manchen Tiefpunkt erlebt, so zuletzt vor einem Jahr die Tortur bei Tortona auf dem Weg nach Savona ans Meer. Das möchte ich in der Art nicht wieder erleben.
Auf einer glatten Straße kommen wir zügig weiter, was die Zuversicht stärkt. Es wird nun heißer und Abkühlung ist gefragt. In Vercelli rund 70 Kilometer vor Turin finden wir den letzten offenen Supermarkt vor. Ich sage: „Ich kann jetzt keine 70 Kilometer durchfahren.“ Ein Zwischenstop muss her. Es folgt eine lange Gerade, die kein Ende nehmen will. Eine weitere schließt sich an. In Crescentino ist der Supermarkt heute am Sonntag nur bis 13 Uhr geöffnet. Da wir erst 20 Minuten später dort ankommen, fällt diese Oase aus. Auch das Lokal im Ort schließt gerade. Enttäuscht ziehen wir weiter.
In einem Ort gute 20 Kilometer vor unserem Ziel können wir in eine Bar einkehren und uns mit Eis und kalter Cola erfrischen. Damit sind wir für den letzten Abschnitt gerüstet. Es geht am Hang wellig entlang. Die Straßenqualität lässt zu wünschen übrig. Ein letzter Kraftakt wartet in Turin zum Monti dei Cappuccini hinauf. Von hier aus bietet sich eine beeindruckende Aussicht über die Dächer von Turin. Ein lohnendes Ziel, wie ich finde. Dort oben sind die 600 Kilometer voll. Bis zu unserer Unterkunft im Zentrum der Stadt sind es weitere 3 Kilometer. 4301 Höhenmeter weist die Strecke am Schluss auf. Wieso nur wieder solch eine lange Strecke? Weil es ein Abenteuer ist.