Start Competition Osenberg Nonstop nach Paris mit Osenberg, Cerny und dem Dachs

Nonstop nach Paris mit Osenberg, Cerny und dem Dachs

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Heidelberg am 16. Juni 2019, Freitag Nachmittag 15 Uhr.
„Regen ist nicht schlimm. Man wird wieder trocken.“, sagt der Fotograf von der Zeitung,
mit dem wir uns an der Alten Brücke mit Blick auf das Heidelberger Schloss für ein Startfoto getroffen haben, bevor unsere Gruppe zur geplanten Radtour „Nonstop nach Paris“ aufbrechen will.
Wir stehen zwar im Sonnenlicht, aber in Richtung Westen ist der Himmel so dunkel, dass man sich bereits ausrechnen kann, wie lange wir höchstens noch trocken bleiben werden. Wir, das sind Osenberg, Cerny, der Dachs und ich. Osenberg ist unser Anführer. Ein unsymphatisches Großmaul, aber verdammt stark auf dem Rad. Cerny war früher Profi in einem tschechischen Team. Er ist deutlich älter als wir, aber topfit. Der Dachs ist kein niedliches Tierchen zum Streicheln, sondern ein von Ehrgeiz zerfressener Egoist. So sieht sie aus, meine Mannschaft. Vor drei Wochen waren wir gemeinsam 300 km von Heidelberg nach Strassbourg und zurück gefahren. Diese Tour hatte allen gut gefallen. Osenberg wollte dem noch einen drauf setzen und schlug als nächstes Fahrtziel Paris vor. Das klang gut.
„Wir fahren aber nur bei blauem Himmel und Sonnenschein“, sagte der Dachs. Und Cerny ergänzte noch „und der Wind muss günstig stehen.“ Zur Vorbereitung war Osenberg, der sich einen geschäftlichen Termin in die Nähe von Paris gelegt hatte, unsere geplante Radstrecke komplett mit dem Auto abgefahren. Osenberg wusste nun, in welchem Dorf ein Brunnen war, wo ein Cola-Automat stand, bis wann die Pizzeria geöffnet hatte, was im Supermarkt gerade im Angebot war, in welchem Vorgarten ein Wasserschlauch lag und wo gerade neu asphaltiert worden war.
Jetzt rollen wir stadtauswärts in Richtung Grenzhof. Noch ist es trocken. Unser Tempo ist moderat. Über unsere Strategie waren wir uns einig. Um gemeinsam das Ziel in Paris zu erreichen, wollen wir uns an drei Dinge halten: Disziplin, das bedeutet kein Rennen. Kontinuität, also Durchfahren ohne Verzögerungen. Und Sicherheit, das heißt jedes Risiko vermeiden. Etwas mehr als 600 km und über 4.000 Höhenmeter liegen vor uns. Der Respekt ist groß. Sonst wären Osenberg und der Dachs schon längst wie die Bekloppten losgeschossen. Wir haben mittelgroße Rucksäcke auf, in denen wir Regenjacken, wärmere Kleidung für die Nachtstunden und unsere Verpflegung transportieren. Eigentlich wollte der Dachs ja ohne Gepäck fahren, weil das sonst so unsportlich aussehen würde. Osenberg konnte ihn dann aber schnell überzeugen, dass es im ländlichen Frankreich, und insbesondere nachts, so gut wie keine Möglichkeit gibt, sich zu versorgen.
Bei Speyer fahren wir über die Rheinbrücke. Keine 10 Minuten später machen wir unseren ersten unplanmäßigen Stopp. Wir sind noch keine Stunde unterwegs und müssen uns schon Regenjacken anziehen.

Jetzt dauert es auch nicht mehr lange und meine Socken sind völlig durchnässt. Der Dachs behauptet, am Horizont würde es schon wieder heller. An Umkehr oder Abbruch denkt sowieso keiner. Kurz vor der Grenze hat Osenberg den nächsten Stopp geplant. Wir sind bereits 100 km seit Heidelberg gefahren. An einem Supermarkt, den wir gegen 19 Uhrerreichen, decken wir uns mit Essen und Getränken ein. Die nächste Einkaufsmöglichkeit wird es erst 300 km später geben. Also am nächsten Morgen. Bei der Gelegenheit wringe ich noch schnell das Wasser aus meinen Socken. Das Gefühl danach, dass meine Socken nicht mehr klatschnass sondern nur feucht sind, empfinde ich als Komfort.
Wegen der nasskalten Witterung müssen mehr Pipipausen als üblich eingelegt werden. Besonders Cerny wird von seiner Seniorenblase gequält. Cerny muss öfter anhalten, um sich am Straßenrand zu erleichtern. Osenberg kennt kein Pardon. Gewartet wird nicht. Ich rufe Cerny noch die Namen der nächsten drei Orte zu, von denen er sich jetzt höchstens
einen merken kann. Dann sind Osenberg, der Dachs und ich mit unvermindertem Tempo hinter der nächsten Kurve verschwunden. Cerny muss mehrmals allein hinter uns herhetzen. Ich glaube schon nicht mehr daran, dass Cerny auf diese Weise eine Chance hat, mit uns in Paris anzukommen.
Nächster offizieller Halt ist gegen 21 Uhr in Bitche. Dort gibt es eine neu eingerichtete Pizzeria. Die Pizzeria ist gut besucht. Ein Tisch für uns ist aber noch frei. Für die dörflichen Verhältnisse sind die anderen Gäste elegant gekleidet. Familien oder junge Paare verbringen hier einen netten Abend. Bis wir in dieses Lokal platzen. Osenberg wirft seinen nassen Rucksack auf das helle Parkett und breitet seine dreckigen Klamotten auf den Fußboden aus. Der Dachs schließt sein Handy an der einzigen Steckdose an. Cerny hat seine Schuhe ausgezogen.
Fließend französisch spricht keiner von uns. Aber dass sich eine Bestellung von Pizza und Cola als so schwierig erweisen würde, hätte ich nicht gedacht. Wenn man bedenkt, was wir an Nahrung alles in unseren Rucksäcken mitschleppen, hätten wir hier eigentlich überhaupt nichts essen müssen. Fast eine Stunde dauert unser Gelage. Inzwischen sind alle anderen Gäste verschwunden. Auf unserem Tisch sieht es aus wie nach einem Kindergeburtstag. Wir ziehen uns an für die Nacht. Osenberg steht schon draußen bei den Rädern.
Es ist inzwischen dunkel. Jetzt stellt er fest, dass sein Rücklicht nicht funktioniert. (wie sich später rausstellen wird, hätte er zum Einschalten den Knopf 1 Sekunde lang drücken müssen. Osenberg tippte aber immer wieder nur kurz darauf. Kurz aber wild. Es nützte nichts. Das Verrückte ist, dass er den ganzen letzten Winter mit diesem Rücklicht unterwegs war. Das Blut schien bereits vollständig vom Hirn in die Beine gewandert zu sein.)

Cerny kann mit einem funktionierenden Rücklicht aushelfen. Er hat zwei dabei. Aus Erfahrung weiß er, dass man bei solchen Touren immer ein Ersatzlicht zur Hand haben sollte. Der Regen hat aufgehört. Die Straßen sind aber immer noch feucht. Und in der Dunkelheit können wir nicht mehr so schnell fahren. Besonders in den Abfahrten müssen wir aufpassen. „Sicherheit!“, mahnt Cerny. „Disziplin, Männer!“, fordert Osenberg, der uns immer in einer bestimmten Formation fahren lassen will.
„Kontinuität!“, verlangt der Dachs, dem die vielen Pausen auf den Sack gehen. Im Dunklen sieht alles gleich aus. Bei manchen Dörfern habe ich den Eindruck, hier schon vor einer halben Stunde durchgekommen zu sein. Die Navigation bereitet aber keinerlei Probleme. Die Straßen sind perfekt ausgeschildert. Osenberg hatte recht, außer ein paar über die Fahrbahn huschenden Füchsen begegnen wir niemandem.
Zum Glück können wir in der Dunkelheit nie sehen, wie lang der nächste Anstieg sein wird oder wie hoch die Hügel vor uns sind. Wir fahren einfach weiter. Stunde um Stunde. Gegen Mitternacht erhalte ich eine Nachricht auf mein Handy. Ein Arbeitskollege schickt mir ein Bild vom Regenradar. Unsere gesamte Strecke bis Paris liegt gerade unter einer riesigen Regenwolke. Das zeige ich den Mitfahrern besser nicht. Dazu ein Text: früher hast du sowas alleine gemacht, jetzt wird dafür ein ganzes Team zerschlissen.
Nach insgesamt 250 km kurz vor Pont-à-Mousson setzt plötzlich heftiger Starkregen ein.
Wir halten sofort an um wieder die Regensachen überzuziehen. Der Dachs fährt noch ein Stück voraus und wartet in einem kleinen Bushäuschen. Dort stellen wir uns alle unter. Ich stehe aber halb im Regen, weil der Dachs sein Rad nicht zur Seite schieben will. Still und mit großen Augen bewundern wir den niederprasselnden Regen. Die Stimmung kippt nicht. Damit das so bleibt, frage ich, „Wann kommt eigentlich der nächste Bus?“ Es ist klar, dass wir nicht lange stehenbleiben dürfen. 13 Grad sind zwar erträglich, aber stehend werden wir schnell auskühlen. Nach 5 Minuten setzen wir uns schlotternd wieder in Bewegung.
Im nächsten Berg wird uns wieder warm. Die ersten Vogelstimmen sind zu hören. Als es irgendwann hell wird, haben wir noch nichtmal die Hälfte der Strecke geschafft. In meiner Naivität hatte ich angenommen, am Morgen schon fast angekommen zu sein. Immerhin waren wir eine komplette Nacht durchgefahren. Von aufgehender Sonne und Morgennebel hatte Cerny erzählt, aber jetzt setzt der nächste Schauer ein. Von wegen herrlicher Sommertag mit tropischer Nacht. Tropisch sind nur die Wassermassen. Die teaminternen Prognosen, wann die Sonne endlich hervorkommen wird, verschieben sich zeitlich immer weiter nach hinten.
Wir sind bis auf die Knochen nass, uns ist kalt. Da hilft nur Kontinuität in der Bewegung. In Saint Mihiel nach 300 km entdecken wir im scheinbar ausgestorbenen Ort einen beleuchteten Cola-Automaten. Aus Gewichtsgründen hat niemand Münzgeld dabei. Der Dachs hat aber entsprechendes Werkzeug parat, womit er eine Flasche Cola hervorzaubern kann. Diese ist dermaßen gut gekühlt, dass sich in der Flasche Eis abgesetzt hat. Ich verzichte auf einen Schluck. Und trinke lieber meine mitgeschleppte Cola, auch wenn die kaum noch Kohlensäure enthält.
Den ersten Bäcker hatte uns Osenberg in Chalons-en-Champagne versprochen. Bei KM 400. Als wir dort ankommen ist es bereits später Vormittag. Wegen der vielen Stopps, der Nässe und all den anderen Widrigkeiten hängen wir etwas im Zeitplan zurück. Auf dem zentralen Platz lassen wir uns auf der Außenbestuhlung nieder. Osenberg hatte gerufen, „Lasst uns zum Brasilianer gehen.“ Über dem Restaurant steht das Wort Brasserie. Irgendwo vorher glaubte er ja auch einen Café beim Coiffeur zu bekommen. Hatte ich schon erwähnt, dass seit 30 Minuten die Sonne scheint?

Um uns herum liegen nasse Socken, klamme Jacken und stinkende Schuhe. Die Menschen an den anderen Tischen nehmen uns aber wohlwollend wahr. Man nimmt mir sogar die in gebrochenem Französisch vorgebrachte Story der von Deutschland aus durchfahrenen Nacht ab. „Bonne Route!“, wünscht man uns. In der Sonne sitzend mit drei warmen Croissants im Bauch war ich erstmals etwas müde geworden. Zurück auf dem Sattel und tretend bin ich aber hellwach. Das geht Osenberg, Cerny und dem Dachs nicht anders. Aber erste Verschleißerscheinungen machen sich bei ihnen bemerkbar.
Im Regen hatte ich wenig Lust und bin nur hinterherfahren. Jetzt aber blühe ich auf.
„Kontinuität“, rufe ich. „Wir dürfen nicht mehr so viele Pausen machen.“ Dann setze ich mich an die Spitze und führe die Gruppe über eine ungelogen 80 km lange Gerade namens D933. Man sieht nur, wie die Straße über unzählige leichte Hügel schnurgerade zum Horizont verläuft. Dazu brutaler Gegenwind genau von vorn. Ich denke nicht darüber nach und fahre einfach. Wenn wir noch bei Tageslicht in Paris ankommen wollen, müssen wir uns ab jetzt stetig vorwärtsbewegen. Es wird nur noch eine einzige Pause gewährt.
Vom Gefühl her bin ich schon so gut wie im Ziel. Es sind aber noch 160 km bis dorthin.
Also mehr als man an einem guten Sonntag fahren würde. Und jetzt ist bereits Mittag.
So spät würde ich nicht mehr zu einer 160 km Tour aufbrechen. Man glaubt ja nicht, dass man diese unzähligen Hügel tatsächlich irgendwann überwunden hat, doch sowas ist alles nur eine Frage der Zeit. Der Verkehr nimmt deutlich zu, je näher wir Paris kommen. Ich verstehe jetzt, wo all die Menschen sind, die man im ländlichen Raum vermisst hat. Die Autofahrer sind uns gegenüber aber rücksichtsvoll. Das Finale wird nochmal grässlich. Alle 20 Meter eine rote Ampel. Zu Fuß wäre man genauso schnell.
Und immer noch 20 km bis zum Eiffelturm. Allein könnte man mit dem Fahrrad wie eine wilde Sau durch den Verkehr brettern, aber mit mehreren Leuten geht das nicht. Man würde Gefahr laufen sich zu verlieren. Und dann passiert es doch. 1 km vom Place de la Concorde entfernt fährt Osenberg vornweg nach links, während der Dachs halbrechts abbiegt. Cerny fährt in eine dritte Richtung einem Bus hinterher. Eine Alptraum-Situation.
Ich hatte gerade einen Radfahrer angesprochen, der uns den Weg weisen wollte. „Große Scheiße!“, sagt er auf Deutsch. Wir lachen kurz. Dann jage ich Cerny hinterher, damit er sich nicht vollkommen verirrt. Über mehrere rote Ampeln, quer durch chaotischen Verkehr sprinte ich mit über 50 km/h über mehrere Kreuzungen Cerny hinterher und kann ihn tatsächlich wieder einholen. Rückblickend waren diese 500 Meter meine sportlich größte Leistung der gesamten Tour. Nachdem ich mit Cerny noch 2 x rechts abgebogen bin, treffen wir Osenberg und den Dachs wie durch ein Wunder wieder.
Gemeinsam rollen wir die Champs Elyssées hinauf zum Arc de Triomphe. Eine Runde im riesigen Kreisverkehr, dann geht es noch zum Siegerfoto vor dem Eiffelturm. Osenberg reckt die Faust in den Himmel, der Dachs lächelt schief, Cerny lässt die Schultern hängen und mein Gesicht ist im Schatten. Eine Gruppe Chinesen applaudiert. Vermutlich hält man uns für kostümierte Straßenkünstler. Dann fahren wir noch 12 km durch den Pariser Verkehr zu unserem Hotel. 24 Stunden reine Fahrzeit von Heidelberg nach Paris. Ohne Schlaf. Bei Regen. Mit Gegenwind. Rauem Asphalt. Dunkelheit und gefährlichem Stadtverkehr. Kein Defekt, kein Sturz. Mit Disziplin, Kontinuität und Sicherheit.
Am Sonntag holt uns vormittags ein kleiner Bus ab und bringt uns zurück nach Heidelberg.
Als ich nach drei Stunden Autobahn kurz aufwache, sehe ich die Ausfahrt nach Chalons-en-Champagne, dem Ort wo ich am Tag zuvor dachte, wir wären so gut wie in Paris. Kurz vor Heidelberg fragt Osenberg in die Runde: „Und Donnerstag nochmal nach Strasbourg?“ Cerny stellt sich schlafend. Der Dachs guckt verlegen auf den Boden. Und ich? Ich schweige.

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