Start Competition Erfahrung am Timmelsjoch

Erfahrung am Timmelsjoch

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Bildquelle: Osenberg

„Ohne ihn würden wir heute nicht da stehen, wo wir sind. Wir können ihm wirklich sehr dankbar sein.“, sagte der Dachs zu mir. Und das meinte er völlig ernst. Dabei war die Rede von Osenberg. Ok, wir haben von ihm gelernt, dass man beim Radsport ausnahmslos weiße Socken tragen darf, und dass die Bügel der Sonnenbrille über dem Gurt des Helms liegen müssen. Und dass man auf dem Fahrrad die Zähne zusammenzubeißen hat. Aber wofür sonst sollte ich Osenberg dankbar sein? Jenem selbsternannten Gruppenführer, bei dem man sich eigentlich nur darauf verlassen kann, dass man sich nicht auf ihn verlassen kann. Selten stimmen Osenbergs Ankündigungen die Fahrzeit oder Streckenlänge betreffend mit dem tatsächlichen Resultat überein. Tempo und Höhenmeter weichen meist noch mehr ab, wenn Osenberg die Führung der Trainingsgruppe übernommen hat. Das entscheidet er in der Regel spontan unterwegs abhängig von seiner aktuellen Tagesform. Informiert werden die Mitfahrer über Planänderungen nicht. Wenn Osenberg an bekannten Kreuzungen ein Handzeichen in eine völlig andere Richtung als vermutet weist, kann man sicher davon ausgehen, dass die Ausfahrt heute etwas länger wird. Komischerweise traut sich nie jemand, Einspruch zu erheben. Ob sie alle ähnlich wie der Dachs einfach nur froh über Osenbergs Windschatten sind? Zwar guckt Osenberg öfter nach, ob hinter ihm noch alle Mitfahrer dran sind. Aber ich würde seinen Stil eher mal als rücksichtslos bezeichnen. Auch sollte man es partout vermeiden, ihn am Berg überholen zu wollen.
Osenberg hat aber auch irgendwo eine fürsorgliche Ader. So bot er mir an, mich für eine Woche Trainingslager mit zum Timmelsjoch zu nehmen. Von Sankt Leonhard aus wollten wir mehrfach die umliegenden Pässe erstürmen. Allesamt relevante Bausteine des Ötztaler Radmarathons.
Am ersten Tag fuhren wir über Penser Joch und Jaufenpass. Osenberg erledigte für mich die Drecksarbeit im ekligen Gegenwind. Allerdings legte er ein ziemlich unangenehmes Tempo vor. Erste Zweifel an meinem Fitnesszustand ließen sich in meinem Kopf nicht mehr unterdrücken. Ohne auf die Verbotsschilder zu achten, zog Osenberg mich durch die längeren Tunnel im Sarntal. Er vorne, ich hinten. Beide ohne Licht. Busse und LKWs donnerten dicht an uns vorbei. Es half ja nichts, ich blieb dran an Osenberg. Den Jaufenpass konnte ich sogar in persönlicher Bestzeit absolvieren.
Am Abend erhielt ich eine Nachricht auf mein Handy. Der Dachs hatte mir zuhause den Strava-KOM über eine Autobahnbrücke abgenommen. Was sollte ich jetzt dagegen tun? Immerhin hatte sich der Dachs bei seiner Rekordfahrt ein paar Prellungen wegen eines entgegenkommenden Radlers zugezogen. Die nächste Tour sollte laut Osenberg „gewaltig Höhenmeter in unsere Beine pumpen“. Wir wollten über das Timmelsjoch bis nach Sölden, von dort hinauf zum Rettenbachgletscher und wieder über das Timmelsjoch zurück. Osenberg zog gleich zu Beginn weg wie ein Motorrad. Er guckte sich auch nicht mehr nach mir um. Ich wollte mir die Kräfte an diesem langen Tag lieber etwas einteilen. Außerdem knallte mir die Sommersonne in den Rampen bei Moos unangenehm auf den Rücken. Literweise lief mir der Schweiß die Unterarme entlang. Hitze vertrage ich überhaupt nicht gut. Erst an der Mautstation hinter dem Pass sah ich Osenberg wieder. Beinahe wäre ich an ihm vorbeigezogen. Er saß auf der Aussichtsterrasse mit einem alkoholfreien Weißbier und übertönte dabei eine laustarke chinesische Reisegruppe und sämtliche vorbeifahrenden Motorräder mit seinen Renngeschichten, die der Kellner eigentlich gar nicht hören wollte. Mir teilte Osenberg an dieser Stelle mit, dass wir die Tour hier abbrechen und umkehren würden. Weil es trainingstechnisch mehr Sinn machen würde.
„Morgen Früh starten wir schon um 6 Uhr auf den Jaufenpass.“, kündigte Osenberg an. „Nüchtern!“ versteht sich. Damit sollte der frühe Start in Sölden simuliert werden. Die morgendliche Kühle bekam mir viel besser. Jetzt fuhr ich vorne. Ich dachte an den Ötztaler und war richtig schön motiviert. Hinter mir konnte ich Osenberg unwillig knurren hören. Vielleicht war es auch sein Magen. Vor Osenberg oben zu sein, gab mir ein gutes Gefühl, welches aber schon bald durch Überraschung abgelöst wurde. Osenberg wollte das Quartier wechseln und weiter an den Gardasee ziehen. Dort gäbe es angeblich Anstiege, an denen man viel besser für den Ötztaler trainieren könne als im Passeiertal.
Kennt jemand von Euch die Auffahrt von Avio hinauf auf den Monte Baldo? 1.500 Höhenmeter am Stück. Ganz unten im Etschtal beginnend. Über 30° Grad im Schatten. Es gibt dort aber nirgends Schatten, weil es eine Südrampe ist. Mit elend langen Geraden. Also schrägen Geraden, wenn Ihr versteht. Kein Brunnen am Wegesrand, den ich hätte aussaufen können. Fahrtwind sowieso nicht. Osenberg hatte mich längst abgehängt. Angetrieben wurde ich nur noch von zahlreichen Insekten, die mir in die Waden und in den Nacken stechen wollten.
Zum Glück überholte mich keiner von diesen E-Bikern, die die Region um den Gardasee inzwischen bevölkern. Früher mal das Mekka der Mountainbiker, hat sich der Lago zum Eldorado für E-Biker gewandelt. Wann werden sie diese Radgattung beim Ötztaler zulassen? Mir graut davor, denn es wird passieren.
Osenberg empfing mich am höchsten Punkt mit guter Laune, dann raste er mir auf der kurvigen Abfahrt wieder davon. Kann sein, dass ich seit meinem letzten Schlüsselbeinbruch etwas zu früh in die Bremsen greife. Jedenfalls komme ich zu dem Ergebnis, dass ich mir das Timmelsjoch etc. besser nicht angesehen hätte. Wie soll ich da im Renntempo rauffahren? Und das bei Hitze?! Jogi Löw hat mit der Nationalmannschaft alle Vorbereitungsspiele verloren. Gewonnen hat er einzig Erkenntnisse. Das Resultat bei der Fußball-WM kennt Ihr. Und was habe ich jetzt am Timmelsjoch erreicht? Erfahrung. Immerhin.

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