Osenberg sagte neulich: „eigentlich gibt es im Radsport nur zwei Monumente. Den Ötztaler und die Tour de France.“ Da hielt ich es für eine gute Idee, für ein paar Trainingskilometer nach Frankreich zu fahren. In den Vulkanbergen der Auvergne genoss ich die nahezu autofreien Straßen über landschaftlich tolle Pässe wie zum Beispiel den knapp 1.600 m hohen Puy Mary, wo immer noch gut erkennbar von fleissigen Fans mit weißer Farbe in fetten Buchtaben „Allez, Allez!“ oder „Bardet“ und „Sagan“ auf die Fahrbahn gemalt wurde. Allerdings machten die Eisheiligen in diesem Mai im französischen Zentralmassiv ihrem Namen alle Ehre. Die Freunde schickten mir aus der Heimat Fotos von nackt im Neckar badenden Studentinnen und ich fuhr leicht fröstelnd mit Arm- und Knielingen zwischen Altschneefeldern hindurch. Bei meiner Abreise war es zuhause richtig sommerlich gewesen, weshalb ich nun dummerweise kaum wärmere Kleidung im Gepäck hatte. Als ich am vierten Morgen im Cantal aufwachte, war die Landschaft vor meinem Fenster vollständig weiß. Ich entschloss mich zur Weiterreise in den Süden. Auf der Autofahrt Richtung Provence kamen mir auf den Höhenzügen der Cevennen Schneeräumfahrzeuge entgegen. Der Straßenzustand erinnerte sehr an Sibirien im tiefsten Winter. In den Alpen und speziell beim Ötztaler habe ich schon manche Wetterkapriolen erlebt, aber noch nie einen solchen Wintereinbruch.
In der Provence schien wie immer die Sonne. Cerny empfing mich vor seinem Wohnmobil, das er in Sichtweite des Campingplatzes von Bedoin auf einem Acker geparkt hatte. Cerny zeigte auf den Berg hinter sich. Der Mont Ventoux! „Da fahren wir morgen 3 x rauf.“, sagte Cerny. Wie er so seinen Finger in den Wind streckte, stellte er mit leuchtenden Augen fest: „Mistral!“
Wir wollten den Ventoux am nächsten Tag von allen drei Seiten rauffahren. Der Himmel war blau. Die Temperatur war vielleicht etwas frischer als üblich, aber im Anstieg merkt man das ja nicht so. Schon bald lief mir der Schweiß ins Gesicht und brannte fürchterlich in den Augen. Leicht schleierhaft konnte ich erkennen, wie mir Cerny im Wiegetritt davonzog. 500 m vor dem Gipfel konnte ich Cerny dann rufen hören. Lautstark brüllte er immer wieder meinen Namen. Es sollte wohl eine Art Anfeuerung sein. Er hörte überhaupt nicht mehr auf mit seinem Theater. Alle Augen waren aber auf mich gerichtet. Mein Gott, wie peinlich! Ich konnte nicht mehr beschleunigen und alle Welt sah nun, wie ich als Geschlagener die letzten Meter zum Gipfel gekrochen kam. Was für eine Demütigung! Ich stürzte mich umgehend in die rasante Abfahrt.
Den zweiten Anlauf auf den Gipfel nahmen wir von Malaucène aus in Angriff. Jetzt war ich fest entschlossen mich zu rächen. Schulter an Schulter erreichten wir zeitgleich den weißen Funkturm auf der Bergspitze. Also musste die Entscheidung bei der dritten Auffahrt von Sault aus fallen. „Wir müssen uns nicht bekämpfen.“, sagte Cerny. Der Wind hatte deutlich aufgefrischt. „Tramuntana.“, stellte Cerny fest. Er wollte deswegen lieber schleunigst zum Surfen an die Küste fahren. Es gab an diesem Tag keine dritte Auffahrt mehr für uns. Wer will schon zum „Club der bekloppten Radfahrer“ gehören, die sowas nötig haben?
Am nächsten Tag hatte ich aber einen neuen Trainingspartner an meiner Seite. Osenberg war spontan für einen Kurztrip angereist. Er war bisher noch nie am Mont Ventoux gewesen und hatte gehörigen Respekt vor diesem mythischen Berg. Wir starteten gemeinsam an diesem herrlich sonnigen Morgen. Ich hatte richtig gute Beine. Der Himmel war strahlend blau. Nur über dem Gipfel stand eine kleine Miniwolke.